Nordwärts

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Nordwärts

Ich habe wieder ein Fahrrad.
Und es ist herrlich!
Gott gab uns Beine, um die Welt zu durchschreiten, doch was
spricht dagegen, seinen Umkreis zu erweitern, seine Wege zu
verlängern, sich dem Horizont zu nähern?
Diese Insel ist ein Kleinod.
Und sie ist riesig.
Über dreißig Kilometer misst sie auf der Nord/Süd Achse, zu
Fuß ist sie kaum zu umrunden, selbst mit dem Rad ist man hier
Stunden unterwegs.

So bin ich also losgefahren, geradewegs in eine Hitze, welche
die Luft über den Straßen tanzen lässt, nordwärts.
Die auch von Autos befahrene Küstenstraße, die sich in sanften
Kurven schlängelt, heißt “Rue des Huîtres”, Austernstraße.
Und schnell wird klar, warum.

Dicht an dicht stehen die Hütten und Häuser der
Austernfischer, weiter draußen sieht man, fern und winzig, ihre
Barkassen, die sie bei Ebbe über tief gegrabene Fahrrinnen
landauswärts schiffen. Weiter Inland, auf dem Watt, tuckern
Traktoren über Schlamm und Algen, gehen einer Arbeit nach,
die ich nicht ganz durchschaue.

Alles hier wirkt so alt und urtümlich, ganz so, als ob die Zeit
hier eigene, ausschweifende Wege geht.
Vieles erinnert mich an das geliebte Portugal.

Die Menschen, die der Mittagsglut in den Schatten ihrer
Häuser weichen, die Wände dieser Häuser, die sie mit dünnem,
bloßen Kalk bestreichen, auch die Art der Vegetation, die
blaßgrün und gedrungen, frech der trockenen Hitze trotzt.
Weiter nördlich soll es laut Karte einen Wald geben, ihn zu
erreichen muss ich einen ganzen Tag auf dem Rad verbringen.
Doch nicht heute.

Heute werde ich mich treiben lassen, werde ganz mit dieser
Welt verschmelzen, werde Wege abseits Straßen finden,
Steine, die seit Jahren liegen, Vögel, die am Himmel fliegen,
alles was mir fremd und doch vertraut ist, eigen machen.
Doch mache ich nicht wirklich irgend etwas mir zu eigen, im
Gegenteil.

Ich enteigne mich, gebe den Besitzanspruch auf, verscherbele
mich zu Spottpreisen, in der Hoffnung, dass diese unberührte,
von Menschen unbeeindruckte Natur mich wieder aufnimmt,
michzu eigen macht, mir in ihrer Wirklichkeit einen Raum,
einen Freiraum für meine Träume schafft.
Ich habe sie so lange und so unverzeihlich vernachlässigt.

Doch es scheint,
was auch immer die Natur sein mag,
nachtragend ist sie nicht.

 

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