Ihr Tod

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Ihr Tod

Ich weiß nicht viel von dem Tod, den sie schließlich gestorben
ist, außer, dass es ihr eigener war.

Als wir uns das letzte Mal trennten, hielt er sich noch zurück,
blieb noch im Stillen und Verborgenen, lugte nur manchmal
kurz um die Ecke, ehe er wieder dahinter verschwand.

Sie wusste, dass es so kommen musste, auch sie hatte ihr
Leben lang den Tod studiert, die Tode der anderen, die wie
Fliegen aus ihren Leben starben, überlebt und auf ihren
vernarbten Schultern bis in ihren eigenen getragen. Und den
letzten dieser anderen Tode hielt sie noch ganz warm in ihrer
Hand.

Sie wirkte nicht erschrocken, nicht überrascht, als wir uns nach
so vielen Jahren an ihrem Sterbebett wiedersahen, nicht von
meiner Anwesenheit, noch von dem Anlass meines Besuchs.
Doch sie freute sich sehr, mich zu sehen, man konnte ihre
Augen strahlen sehen und auch die tränenfeuchten Netzhäute
wussten das Leuchten nicht zu vermindern.

Ich hingegen war ganz erschrocken darüber, wie wenig ich
mich bei ihren Anblick erschrak, wie wenig sie meinem Bild
eines krebskranken Menschen entsprach. Sie war rund und
dicklich, älter, gewiss, und auch kleiner, als in meiner
Erinnerung, aber nicht so sehr vom Leben ausgezehrt, dass sich
die Nackenhaare sträuben und die Augen niederschlagen.
So war es dieser Tage, ein Geschenk, das mehr kostet, als
einbringt, das auf der Verpackung schon den Preis verkündet,
das vom ersten Blick an keine Missverständnisse erlaubt.

Für mich barg dieser alte Tod etwas neues, mir fremdes, etwas
schönes und seltenes, etwas, das mir in diesem Leben bisher
vergönnt wurde.
Zeit für einen Abschied in Würde.

Wir wussten beide, dass wir die Zeit nicht mehr zurückdrehen
oder einholen konnten und so waren wir uns im Stillschweigen
einig, keine Zeit bei dem Versuch zu verlieren, alte Wunden zu
verbinden, wir nahmen das, was wir erhielten, ohne
Widerworte hin, reichten uns die Hände zur Versöhnung und
blieben dabei dennoch unseren Egoismen treu.

Ich weiß nicht genau, wann ich das letzte Mal so dicht bei
meiner Mutter stand, bin nah an der Behauptung, es wäre zur
Geburt gewesen, doch in den letzten unserer Tage fand ich
einen Frieden mit dem Leben und dem Tod, der mir, trotz aller
Arbeit, nie gelingen wollte. Und so hielten wir uns mehr
bereit, als uns gestattet wurde, hielten unser beider Leben in
den Händen, tauschten es einander aus, um es in Ruhe zu
betrachten, es nach Ähnlichkeiten und Unterschieden zu
untersuchen und gaben es in liebevoller Sorgfalt sanft zurück.

Wie ich dann saß, an ihrem Bett und ihr aus meinem Buch
vorlas, fremde Worte eines fremden Menschen, den sie in das
Leben gab, fiel alles Schwere, alles Unmögliche von uns ab,
und als sie dabei einschlief, schien mir dies nicht aus
Langeweile, sondern aus tiefster Konzentration zu sein, und
später, als sie wieder wachte, meinte ich Stolz in ihren Augen
sehen zu können.

Und wie wir zu dritt, mit meiner Schwester, diesen engen Kreis
betraten, wie ich hinunter in den Garten ging und
Tannenzweige brach, wie ich sie, ob der Not, zu Weihnachten
an ihrem Tropf befestigte, wir Kerzenlicht machten,
Geschichten lasen und Lieder sangen, da war es, als ob all die
Jahre, in denen wir uns entfremdeten, gleich hier vor unserer
Türe lagen, unbeschadet, unberührt.

Und alles,
was danach kam,
war nicht Pflicht mehr,
war die Kür.

Ich weiß nicht, wem ich dafür danken kann, noch soll.
Sind es das Leben und der Tod, ist es ein Gott, der meistens
schläft, ist es die Liebe, oder ist es nichts von alledem und alles
das zusammen, was meinen Dank verspürt?
Ist es am Ende doch sie selbst, die im Leben nicht viel Dank
erfuhr, am wenigsten von mir?
Oder danke ich mir selbst, weil ich diese letzte, einmalige
Gelegenheit zu nutzen wusste?

Vielleicht spielt dies im Grunde keine Rolle.
Ich weiß nicht, welchen Tod sie schließlich gestorben ist.
Doch wenn auch nur ein Hauch von dem Frieden, den er mir
gab, in ihrem letzten Atem lag, so kann es nur ein gütiger
gewesen sein.

 

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