Abstand

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Abstand

Dies ist nun mein letzter Morgen hier.
Es war ja klar, dass zwölf Tage nicht ausreichen.
Das ist Urlaub.
Man geht immer nur auf Zeit, gewinnt etwas dazu und verliert
das Meiste davon wieder bei der Abreise. Sie sagt man
trüge es doch im Herzen mit sich. Das stimmt schon, aber wie
kann eine Blume, die in Freiheit lebt, in einem Topf auf einem
Stadtbalkon gedeihen?

Bevor ich auszog hatte ich geschrieben, wie sehr mir Berlin an
das Herz wuchs. Auch das stimmt.
Und Paris hatte mich auch für sich gewonnen, mich
eingelassen, eingenommen. Aber eine Stadt ist immer
Menschenwerk, ist so sehr von Menschen durchsetzt,
so sehr auf Entwicklung und Fortschritt ausgerichtet, dass man
den Ursprung nur bei größter Konzentration wahrnehmen kann,
was mir leider viel zu selten gelingt.
Heimat.

Ja, ich glaube schon, dass Berlin mein Zuhause ist.
Doch es gibt eine Heimat, eine Zugehörigkeit, außerhalb der
Menschenwelt, eine Welt, die von Häusern abgewehrt, von
asphaltierten Straßen überzogen, vom Licht der Straßenlaternen übermalt wird.
Eine Welt, die keine Kultur- und
Landesgrenzen kennt, keine Nationalität hat,
keine Sprachbarrieren aufstellt.

In dieser Welt, die alles ist, alles durchdringt, sind die
einfachen Dinge, die selbstverständlichen Dinge, der Dreh- und
Angelpunkt des Lebens, Dinge, die älter sind, als alles vom
Menschen geschaffene, erdachte, erliebte, älter auch als Poesie
und Musik, älter als jede Art von Kunst.

Es sind Dinge, oder Wesen, wie der Wind, der Mond, die
Sonne, die Sterne, das Wasser, die Steine, die Pflanzen und
Tiere… Zivilisation bedeutet im Grunde nichts weiter, als
Mauern zu bauen, Fortschritt lediglich diese Mauern zu
erweitern und zu verstärken, um die feindliche, tödliche Natur
abzuwehren, um sich vor ihrer Urgewalt zu schützen.
Das ist, meinetwegen, auch recht und billig.

Zweifelsohne sind wir weit gekommen, haben der Natur
erfolgreich getrotzt, ihr Zentimeter um Zentimeter Lebensraum
abgerungen. Und vielleicht ist auch das die “Natur” des
Menschen, den Kampf aufzunehmen, sich dem
Ausgeliefertsein entgegen zu stemmen.

Vielleicht würde ich in den Armen der Natur auch nicht
behütet, sondern lediglich zerdrückt werden. Ich hatte es ja
auch schon einmal versucht, die Heimkehr, mich von den
Menschen ab- und der Erde zuzuwenden. Und ich musste
schon damals feststellen, dass dies in letzter Konsequenz nicht
gelang, mit meinen Mitteln nicht gelingen kann.
Ich war nie abseits der Gesellschaft, auch nicht dort am
äußersten Rand, ihr Einflussgebiet erstreckt sich einfach zu weit.
Zwar lebte ich ohne Strom, ohne Wasserleitungen, ohne
Fernsehen und Nachrichten, aber dennoch musste ich mit Geld
jonglieren, Dinge kaufen, arbeiten gehen.

Es war letztlich nur ein Kompromiss.
Doch er brachte auch viel Freiheit, viel Bewegungsspielraum.
Und die Stimme der Welt brach wieder durch, an jedem
Morgen, Mittag, Abend. Meine Zyklen wurden beherrscht vom
Lauf der Sonne und den Bahnen des Mondes.
War es so, war ich ausgeliefert?
Bestimmt.

Nicht ich konnte entscheiden, gestalten, bestimmen.
Der Rhythmus war vorgegeben, ja selbst das Taktmaß und
große Teile der Melodie. Doch das Lied, das ich sang war mein
eigenes. Es war, als ob ich jeder Nacht aufs neue eine weitere
Variation meines Liedes vorspielte, eifrig und voller Stolz, wie
ein Kind seinen Eltern, um Anerkennung heischend, sein
kratziges Geigenspiel vorträgt und trotz der Schmerzen, die es
dem Zuhörer bereitet, mit Lob überschüttet wird.

Ich habe die Natur nicht als Bedrohung erlebt.
Ich fühlte mich von ihr umsorgt und geliebt, verstanden und
anerkannt, willkommen. Ich fühlte mich untrennbar mit ihr
vernetzt, bis es kein Unterschied mehr machte, ob ich lebe,
oder nicht. Es gab nicht mehr mein Leben. Es gab nur DAS
Leben und meinen kurzen, gestundeten Beitrag zu dessen
Vielfalt.

Und wie ich auch mit jeder, weiteren Nacht die fremde Sprache
der Portugiesen besser hören und sprechen gelernt hatte,
verstand ich auch die Sprache der Erde besser und vergrößerte
mein Vokabular, wurde immer besser verstanden.
Dies alles braucht Zeit.

Man ist immer verwurzelt, dabei unterscheiden wir uns nicht
von den Pflanzen, deren Verwandtschaft selbst den kritischen
Vegetariern und Veganern absurd erscheint.
Leben braucht Leben um zu überleben.

Das ist ein Grundsatz, der ebenso unumstößlich scheint, wie
die Gesetze der Physik, wie die Gravitationsregeln, oder der
erste Satz der Thermodynamik. Es gibt daran nichts zu rütteln.
Wir müssen töten, um zu leben.

Doch das ist nicht unser Gesetz, ist nicht auf unserem Mist
gewachsen. Solange wir leben, sind wir Bittsteller, Nutznießer
der Welt. Wir sind verwurzelt in der Welt.
Und leider auch in den Städten, zumindest ist es bei mir so.
Um also Fuß zu fassen, Wurzeln zu schlagen, muss ich diese
zuerst kappen, und dabei darauf hoffen, dass der lose,
ungedüngte Boden der Natur mich wieder annimmt, mir Halt und
Nährstoffe bietet, mich ausreichend versorgt.

Und genau so fühle ich mich jetzt.
Ich habe wieder Wurzeln geschlagen, hier an diesem Ort, der
so gleich und so verschieden, wie jeder andere ist, noch reichen
sie nicht sehr tief. Doch ich kann hier nicht bleiben, ich habe ja
ein Leben zu meistern, Bedingungen zu erfüllen.

Sicher, ich werde auch dort wieder wurzeln. Beton erschwert die Sache,
doch sie kann sie nicht verhindern.
Der letzte und einzige Gegner ist schließlich die Zeit. Und sie
wirkt in beide Richtungen, geht verloren und häuft sich an.
Je länger man an einem Ort verweilt, desto tiefer reichen die
Wurzeln, desto fester wird die Verbindung, desto schwerer
wird es sich wieder zu lösen.

Man sagt Berlin sei auf Sand gebaut.
Doch über diesem Sand liegt metertiefer Asphalt.
Nun, es kommt mir dieser Tage wieder deutlich in den Sinn,
dass ich noch nicht alt bin, nicht einmal im Maßstab eines Menschenlebens.
Aber ich werde alt, Stunde um Stunde.
Und ich darf nicht in Berlin alt werden, mich nicht von ihr
vereinnahmen lassen, darf nicht in einem Altenheim die letzten
Wochen verbringen, nicht in einem Krankenhaus den letzten
Atemzug nehmen.

Es gibt Menschen, die den Frieden in sich selbst finden,
unabhängig von dem Ort und der Zeit, in der sie leben.
Ich gehöre nicht dazu.
Ich brauche gleichermaßen Abstand und Nähe.
Abstand zu den Menschen und Nähe zur Natur,
Abstand zu meiner Person und Nähe zu meinem Geist.
Abstand zu Gedanken und Nähe zu Gefühlen.
Ach, es ist so schwer zu fassen, kaum zu vermitteln, zu
erklären.

Die Stadt verschlingt mich mit Haut und Haaren.
Die Natur verspeist mich mit Geist und Seele.
Und sicher will ich das, was wir alle wollen und brauchen.
Liebe und Zugehörigkeit.

Doch sie nur in den Menschen zu suchen, weil dies nun mal
unsere Art, unsere Spezies ist, leuchtet mir nicht ein, wo wir
doch alle auf dieser, einen Welt leben, in der alles zusammengehört,
alles aus Liebe besteht.

Ist das der Gott, von dem ihr alle sprecht?
Die Kraft, die alles unermüdlich liebt, das lebt.
Vielleicht.

Für mich gibt es nur einen Gott.
Es ist die Erde, auf der wir leben, aus der wir bestehen und zu
der wir wieder werden, wenn wir gehen. Es gibt vielleicht
mehr, hinter den Schleiern, ferner noch als alle Teleskope
reichen, irgendwo da draußen in der öden, wüsten Weite des
Weltraums. Doch ist das alles bloße Theorie.

Hier, wo ich bin, wo ich auf der Welt stehe und sie mit Blicken
erkunde, wo ich sie riechen, schmecken, hören kann, nein -
darf, gibt es nur ein Wesen, das lebt und pulsiert, das alles
Leben gibt und nimmt, das Vielfalt und Einheit zugleich ist.

Ich will nicht dagegen ankämpfen, mich nicht erheben, will es
nicht bezwingen, will nicht nach den Sternen greifen, da mir
alles nicht genügt, ich mich zu höherem berufen fühle.

Sollen es die anderen tun, die es nicht lassen können.
Ich suche nicht Weite, nicht Ferne, nicht Grenzenlosigkeit.
Ich suche Tiefe.
Tiefe im Meer, in der Erde, in mir und auch in dir.
Wenn es möglich ist, noch bevor ich sterbe.
Ich will wieder nach Hause.

 

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